Antrag: Weihnachtsbeihilfe für Kinder aus einkommensschwachen Familien

Sehr geehrter Herr Häuser,
Die Fraktion DIE LINKE. stellt zur Kreistagssitzung am 4. Oktober 2023 folgenden Antrag:

Der Kreistag möge beschließen:
Kinder aus Familien, die Leistungen nach SGB II oder SGB XII beziehen, bzw. berechtigt sind, Zuschüsse aus dem Bildungs- und Teilhabepaket BUT in Anspruch zu nehmen, erhalten vom Wetteraukreis jeweils zu Weihnachten eine Weihnachtsbeihilfe von
75 Euro als Einmalzahlung.

(Nach SGB II § 11a (Nicht zu berücksichtigendes Einkommen) Abs. 5 gilt: Geschenke und Zuwendungen, die ohne „eine rechtliche oder sittliche Pflicht“ erbracht werden, „sind nicht als Einkommen zu berücksichtigen, soweit (…) sie die Lage der Leistungsberechtigten nicht so günstig beeinflussen, dass daneben Leistungen nach diesem Buch nicht gerechtfertigt wären.“)

Begründung:
Die Kinderarmut steigt dramatisch. Der Kreistag nahm das bisher nicht zur Kenntnis und erklärt sich seit Jahren für unzuständig. Die Bekämpfung von Kinderarmut ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit Folgen für die gesellschaftliche Verfasstheit.
Die Milderung von Armut und Ausgrenzung ist zwar keine originäre Aufgabe des Wetteraukreises, dennoch wäre eine Beihilfe für die Betroffenen gerade an Weihnachten eine echte Hilfe und das kann die Erfahrung von Armut und Ausgrenzung an so einem wichtigen, emotional aufgeladenen Feiertag mildern.
Wir haben zu Ihrer Information weiter unten die Folgen von Kinderarmut aus der Bertelsmann-Studie „Kinderarmut in Deutschland“ zitiert.

Hintergrundinformationen

Gesamtsituation laut statistischem Bundesamt vom Mai 2023:
6,1 % der Bevölkerung oder 5,1 Millionen Menschen in Deutschland waren im Jahr 2022 von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen (2021: 4,3 %). Das bedeutet, dass ihre Lebensbedingungen aufgrund von fehlenden finanziellen Mitteln deutlich eingeschränkt waren.

Kinderarmut:
2,88 Millionen Kinder unter 18 Jahren sowie 1,55 Millionen junge Erwachsene (von 18 bis unter 25 Jahren) waren bereits 2021 arm oder armutsgefährdet. Das belegt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.
(faktsheet Bertelsmann „Kinderarmut in Deutschland“ https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/factsheet-kinderarmut-in-deutschland)

Das heißt: Mehr als jedes fünfte Kind ist arm.
Betroffen sind vor allem Kinder in Alleinerziehenden- und Mehrkindfamilien. Bei den jungen Erwachsenen unter 25 Jahren ist jede:r Vierte arm. Diese Gruppe hat das höchste Armutsrisiko aller Altersgruppen in Deutschland. Viele dieser jungen Menschen benötigen SGB II-Leistungen, um über die Runden zu kommen.  

In Hessen leben 42,4 % Kinder von Alleinerziehenden im SGB II Bezug.
19,1 Prozent der Paarfamilien mit drei und mehr Kindern und 66,7 Prozent der Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern beziehen SGB II-Leistungen. In allen Familienhaushalten steigt die Armutsbetroffenheit mit der Kinderzahl – und sie sind jeweils häufiger betroffen als vergleichbare Haushalte ohne Kinder, obwohl es mehrere familienpolitische Leistungen (Kindergeld, Kinderzuschlag etc.) für sie gibt.

Die aktuellen Krisen und die damit einhergehenden Preissteigerungen verschärfen die Situation weiter. Die Vermeidung von Kinder- und Jugendarmut muss daher jetzt politisch Priorität haben!

Auszug aus der Bertelsmann-Studie „Kinderarmut in Deutschland“:

„Welche Folgen hat Armut für Kinder und Jugendliche?
Auf der Grundlage verschiedener Studien können wir belegen, dass Armut Kinder und Jugendliche begrenzt, beschämt und ihr Leben bestimmt.

Armut begrenzt bedeutet, sie
… haben seltener einen Rückzugsort oder ruhigen Ort zum Lernen Zuhause (13% im Vergleich zu 0,7% in Familien mit gesichertem Einkommen),
… sind in ihrer Mobilität eingeschränkt (in der Hälfte der Familien im SGB II-Bezug fehlt ein Auto aus finanziellen Gründen),
… haben öfter keinen Computer mit Internet (24% im Vergleich zu 2,2%)
… können selten neue Kleidung kaufen (24,5% können aus finanziellen Gründen nicht ab und zu neue Kleidung kaufen),
… sind seltener Mitglied in einem Verein,
… können kaum etwas mit Freund:innen unternehmen, was Geld kostet (z.B. ins Kino gehen, Eis essen),
… erhalten seltener von ihren Eltern Taschengeld (20% der Eltern im SGB II-Bezug, aber nur 1,1% der Eltern in gesicherten Einkommenslagen geben ihren Kindern aus finanziellen Gründen kein Taschengeld),
… können nicht mit der Familie eine Woche im Jahr in den Urlaub fahren (67,6% der Familien im SGB II-Bezug fahren aus finanziellen Gründen nicht in den Urlaub im Vergleich zu 12,1% aus anderen Familien),
… kommen aus ihrer eigenen Lebenswelt bzw. ihrem Umfeld nicht heraus,
… können oft nicht mit auf Klassenfahrt, keinen Schulaustausch mitmachen etc.

Armut beschämt bedeutet, sie
… können seltener Freund:innen nach Hause einladen (28,3% im Vergleich zu 17%),
… sie schämen sich, wenn Freund:innen zu ihnen kommen
… schlagen Einladungen zum Geburtstag aus, weil sie kein Geschenk haben oder selbst keinen Geburtstag feiern können,
… müssen bei Lehrer:innen oder Trainer:innen stigmatisierende Anträge für Klassenfahrten, Freizeitangebote o.ä. stellen – oder sie melden sich krank und fahren nicht mit,
… erfinden Ausreden, wenn sie nichts mit Freund:innen machen können, weil sie kein Geld haben,
… werden häufiger ausgegrenzt und erleben Gewalt etc.

Armut bestimmt ihr Leben bedeutet, sie
… machen sich Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie,
… fühlen sich in unserer Gesellschaft unsicherer als andere junge Menschen und werden häufiger ausgegrenzt, gehänselt oder erleben Gewalt,
… können nicht für die Zukunft sparen und haben damit weniger Handlungs-perspektiven,
… sind häufiger von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen, neigen stärker zu riskantem Gesundheitsverhalten (Bewegungsmangel, Rauchen) und leiden häufiger unter sozialen und psychischen Belastungen,
… haben geringere Bildungschancen und erleben im Bildungssystem Benachteiligungen – der Schulstart verläuft seltener regelhaft, sie wiederholen häufiger eine Klasse, sie haben (außer im Fach Sport) schlechtere Noten, erhalten bei gleichen Leistungen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium und vollziehen seltener einen gelingenden Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II,
… ziehen sich eher von ehrenamtlichen und politischen Aktivitäten zurück, beteiligen sich weniger und fühlen sich insgesamt weniger zugehörig in der Gesellschaft,
… können weniger als andere Kinder und Jugendliche an kulturellen und sozialen Aktivitäten teilhaben,
… erleben in nahezu allen Lebensbereichen Einschränkungen aufgrund der Armut; dies kann in eine Abwärtsspirale führen und Folgen für das ganze Leben der Kinder und Jugendlichen haben.“

Können wir uns diese Armutsfolgen leisten?

Glauben Sie wirklich, Kinderarmut hätte keine Folgen für unsere Gesellschaft? Und wir müssten uns in der Wetterau weiterhin als „nicht zuständig“ erklären?

Natürlich obliegt die vorrangige Armutsbekämpfung der Bundesregierung und auch der Landesregierung. Im Bund wurde eine armutsfeste Kindergrundsicherung jetzt zugunsten des Rüstungsetats fallen gelassen. Die beschlossenen 2,4 Milliarden sollen laut Bundesfinanzminister lediglich für die Digitalisierung der Antragstellung von Sozialleistungen sein. Und das, obwohl bekannt ist, dass mindestens ein Fünftel der armen Menschen keinen Internetanschluss hat – weil er für sie nicht bezahlbar ist!
SPD, CDU, Grüne und FDP sind Regierungsparteien in Land und Bund. Es wäre für die Vertreter:innen dieser Parteien hier im Kreistag an der Zeit, auf allen Parteitagen und vor Ort für eine wirksame Armutsbekämpfung, eine Vermögenssteuer und für Abrüstung statt Aufrüstung Druck zu machen.

Armut hat nicht allein Folgen für jeden einzelnen jungen Menschen – heute sowie für die Zukunft.
Armut hat auch Folgen für die gesamte Gesellschaft, nicht nur mit Blick auf Kosten in den Sozialsystemen, sondern auch auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Stabilität der Demokratie.