Rede zum Haushalt 2021
16. Dezember 2020
Herr Kreistagsvorsitzender,
Herr Kämmerer Walther,
meine Damen und Herren,
es wurde jetzt ja viel formale Kritik geübt. Ich will dennoch sagen: uns ist sehr bewusst, unter welchen Unwägbarkeiten dieser Haushalt aufgestellt worden ist. Dass die Pandemie – immer noch – und dazu die Unterbringung und Versorgung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine große Herausforderungen für den Wetteraukreis mit sich bringen. Wir sehen die hohen Anforderungen an die Verwaltung. Diese Belastungen waren und sind sicher nicht einfach so zu stemmen. Wir wollen das nicht kleinreden. Probleme gibt es genug.
Meine Damen und Herren,
eines dieser Probleme ist – ganz ohne Corona und Krieg – der Anstieg der Armut. Der letzte Armutsbericht des paritätischen Wohlfahrtsverbands konstatierte eine verfestigte Armut für das Pandemiejahr 2020. Noch nie wurde auf der Datenbasis des Mikrozensus eine höhere Armutsquote in Deutschland gemessen. 16,1 Prozent der Bevölkerung – das entspricht 13,4 Millionen Menschen – müssen danach in diesem Lande zu den Armen gerechnet werden – ein neuer trauriger Rekord.
Dazu gibt es den Graubereich derer, die nur wenig über der Armutsgrenze liegen.
Ein gutes Fünftel der Bevölkerung hat also mit Armut zu kämpfen.
Die Corona-Pandemie hat zur Verschärfung dieser Situation beigetragen.
Die Armutsquote bei Selbständigen ist auf 13 Prozent angestiegen.
Bei Haushalten mit drei oder mehr Kindern beträgt die Armutsquote 31 Prozent, bei Alleinerziehenden 41 Prozent und bei Erwerbslosen 52 Prozent. Die Zahl der wohnungslosen Menschen stieg auf 678.000 Personen.
In der Coronazeit wurden ohnehin ungesicherte und prekäre Beschäftigungs-verhältnisse wurden noch unsicherer. Kurzarbeitergeld sicherte zum Glück viele Arbeitsplätze aber es liegt bei 60 Prozent des vorherigen Lohns. Nicht immer reicht das aus, um die Kosten abzudecken.
Dazu kommen Preisanstiege für Mieten, Energie und Lebenshaltung.
Jetzt werden auch noch die Folgen der Abschottung gegenüber Russland dazukommen, denn Wirtschaftskrieg hat immer negative Auswirkungen auf die Bevölkerung – und das nicht nur bei der Gegenseite. Ein neuer eiserner Vorhang nützt der Mehrheit unserer Bevölkerung nichts.
Die globalisierte Welt lässt sich nicht wirklich zurückdrehen.
Zumal angesichts der Klimaproblematik eine internationale Zusammenarbeit zwingend notwendig wäre! Jedenfalls sind Krieg und Aufrüstung auch aus der Sicht des Klimaschutzes völlig kontraproduktiv.
Die steigenden Energiekosten werden drastische Folgen auf das Preisgefüge haben. Das hat bereits begonnen.
Und natürlich ist angesichts der beschlossenen Hochrüstung eine weitere drastische Verschärfung zu erwarten. Die Armutsquote wird steigen und bei den Sozialhaushalten wird man über drastische Kürzungen nachdenken. Das Geld für dringend erforderliche Investitionen wird fehlen – ob in Schulen, Krankenhäusern oder für Klimaschutzmaßnahmen. Und der Wetteraukreis und seine Kommunen werden keinesfalls mehr Geld zu Verfügung haben.
Wenn man alle zukünftig geplanten Rüstungsausgaben auf ein Jahr umrechnet, dann sollen 80 Milliarden – jährlich!! –
für Rüstung ausgegeben werden.
Der helle Wahnsinn! Weder wird dadurch Frieden gesichert noch die Finanzierung unseres Gemeinwesens.
Steuererhöhungen für Reiche und Konzerne sind ja nicht geplant. Dann können Sie sich ausmalen, wer die Rechnungen bezahlt.
Meine Damen und Herren, man kann in einer Demokratie die soziale Spaltung nicht in diesen Dimensionen weiter voran treiben!
Das ist die Lage.
Warum haben wir das ausgeführt?
Wir haben das ausgeführt, weil wir nicht glauben, dass es ein Zukunftskonzept – gerade für eine demokratische Gesellschaft – sein kann, diese drastische Armutsentwicklung, diese soziale Spaltung, völlig unzureichend zu beachten.
Und das tun Sie nicht ausreichend mit diesem Haushalt – leider.
Ich beginne mit der kreiseigenen Wohnungsbaugesellschaft. Sie kommt nicht voran. Sie ist mit lediglich 2,1 Millionen Euro Stammkapital ausgestattet. Wir haben die Erhöhung der Stammeinlage um die zehnfache Summe beantragt. Wenn diese kreiseigene WoBau mit einer bemerkbaren Bautätigkeit und Wohnungsbauförderung erfolgreich sein soll, muss sie entsprechend ausgestattet sein.
Wir wollen hier nicht nach einigen Jahren Untätigkeit hören, dass das Projekt leider gescheitert sei. Wir brauchen jetzt Power für bezahlbaren Wohnraum.
Teure Luxuswohnungen werden genug gebaut. Die Wohnungsnot besteht im unteren Preissegment. Dort sind einkommens-schwache Haushalte mit viel zu hohen Mieten konfrontiert. Viel zu hohen Mieten im Verhältnis zum Zustand der Wohnung – weil die Nachfrage die Mietpreise in die Höhe treibt und gewissenlose profitgeirige Vermieter jede Drecksbude für ein Wahnsinnsgeld vermieten können.
Das Wohnungsproblem ist das drängendste soziale Problem. Alle Wohlfahrtsverbände, Kirchen oder parteinahen Stiftungen geben dazu Statistiken und Handreichungen heraus. Dort ist überall zu lesen, dass die Deckelung von Mieten und die Wohnungspolitik zentral sein müssen.
Und dass auf allen Ebenen – auch auf der kommunalen – mit Nachdruck an der Wiederherstellung der Wohnungs-Gemeinnützigkeit gearbeitet werden muss.
Nur der Wetteraukreis schläft weiter.
Das muss sich ändern!
Hier im Wetteraukreis und auch bundesweit.
Es sind Ihre Parteien, werte SPD, FDP und Grüne, die im Koalitionsvertrag den Bau von jährlich 400.000 Wohnungen festgelegt haben. 100.000 davon Sozialwohnungen.
Ist zwar noch zu wenig – aber immerhin.
Jetzt sind jedoch statt 14,5 Milliarden nur 2 Milliarden wirklich eingesetzt worden.
Ich würde ja mal gern in der Zeitung lesen:
Die SPD Wetterau oder eben die FDP oder die Grünen Wetterau verlangen von Ihrer Regierung, dass sie den sozialen Wohnungsbau ankurbelt, statt Hundert Milliarden in Hochrüstung zu pumpen.
Weiter mit dem Problem der steigenden Preise bei Energie und Mobilität:
Wir beantragen für beides Entlastung für den einkommensschwachen Teil der Bevölkerung. Dazu haben wir eine Sozialchipkarte beantragt. Unsere frühere Vorstellung von den Möglichkeiten, die eine solche Sozialchipkarte bieten müsste, haben wir zugunsten dieser armutsverstärkenden Bereiche – Energie und Mobilität – fallen gelassen. Für den Wetteraukreis ist das auch einfacher zu handhaben und einfacher zu berechnen. Die Verhandlungen zur Realisierung der Chipkarte müssten nicht mit allen Kommunen geführt werden, sondern nur mit der OVAG und mit den Verkehrsbetrieben.
Sie haben in Ihrer Recherche 2019 ausgerechnet, dass unser alter Vorschlag drei Millionen kosten würde. Wir gehen davon aus, dass mit diesem Betrag unser heutiger Vorschlag voll abgedeckt sein wird.
Meine Damen und Herren,
die Situation der Schulen, möchte ich kurz ansprechen:
Da ist zuerst mal die Situation in den Schulen angesichts der Corona-Pandemie. Von den Überschüssen der letzten Jahre wurde viel Geld für Sanierung und Neubau von Schulen vorgesehen. Das war eine richtige Entscheidung. Corona hat aber neue Anforderungen mit sich gebracht. Nach vielen Debatten soll nun Unterricht in Präsenz stattfinden. Das bedeutet aber auch, dass in den Schulen viele Menschen zusammenkommen und von diesen viele nicht geimpft sind. Dann muss aber der Gesundheitsvorsorge zentrale Bedeutung zukommen. Dafür ist notwendig, dass die Klassen mit Luftfilteranlagen ausgestattet werden.
Das kostet zweifellos viel Geld. Das Land duckt sich weg. Aber der Kreis sollte sich nicht wegducken. Er sollte die Finanzierung nachdrücklich einfordern und selbst einen Teil seines Investitionsvolumens dafür verwenden.
Zudem braucht es einen anderen Umgang mit digitalen Lernmitteln.
Wir wissen, dass die Ausstattung mit digitaler Technik nicht in erster Linie beim Wetteraukreis liegt. Sie arbeiten dran. Vielleicht zu langsam, das können wir nicht beurteilen. Aber was wir beurteilen können ist, dass Sie sich der sozialen Dimension der Digitalisierung verschlossen haben.
Der Bund hatte extra für die Kinder aus einkommensschwachen Familien ein Sonderprogramm aufgelegt. Auch der Wetteraukreis hat Mittel erhalten. Doch statt dafür vorgesehene Schülergruppen damit auch auszustatten, haben Sie diese Hilfen im Gießkannenprinzip auf die Schulen verteilt. So geht jedenfalls Chancengleichheit nicht!
Ein weiteres leidiges Thema ist die Unterhaltsvorschusskasse. Sie nehmen sich mit diesem Haushalt vor, die Rückholquote für versäumten Unterhaltsvorschuss zunächst auf 18 und dann auf 19,5 Prozent zu steigern.
Das hört sich erst mal gut an. Denn selbstverständlich gehen auch wir davon aus, dass Väter – meistens sind es Väter – für ihre Kinder Unterhalt zahlen müssen. In der Realität haben wir allerdings den Eindruck, dass dieses Rückholziel mit enormem Druck auf die Frauen verbunden ist. Oft können sie den Aufenthaltsort des Vaters nicht ermitteln, es fehlen Ihnen dadurch Papiere, die sie auch nicht beschaffen können und schon verzögert sich die Zahlung des Unterhaltsvorschusses um Monate oder die Zahlungen werden ganz verweigert.
Dieser Umgang mit den Müttern ist kein Einzelfall. Hier wäre es dringend angebracht, in der Arbeitsweise des Amtes was zu ändern!
Der dritte Punkt ist der Umgang des Jugendamtes mit Eltern. Hier haben wir erlebt, wie ganz elementare Umgangsweisen unbekannt zu sein scheinen: dass keine Gespräche stattfinden, um mit den Eltern das Vorgehen des Amtes zu besprechen,
oder dass Termine kurzfristig abgesagt werden ohne später Ersatz anzubieten, oder dass man glaubt, komplizierte Sachverhalte ohne Dolmetscher vermitteln zu können. Sie haben auf unsere Anfrage zum Haushalt geantwortet die Aufwendungen für Dolmetscher seien auf Null gesetzt worden, weil kein Bedarf sei. Wir können Ihnen mehrere Fälle benennen, die dringend einen Dolmetscher gebraucht hätten und keiner war verfügbar.
Wegen der Zeit will ich es mal bei diesen Beispielen belassen…
Meine Damen und Herren,
zum Bereich Sozialpolitik gehört, dass es einen Überblick über die soziale Situation im Wetteraukreis gibt. Wir haben lange auf einen Sozialindex gedrungen.
Jetzt freuen wir uns, dass Sie einen Weg gefunden haben für die Erstellung eines Sozialindex. Das ist zweifellos ein Fortschritt.
Wünschenswert wäre jetzt, dass er auch weiter fortgeschrieben wird. Dass er um wichtige Teile ergänzt wird, zum Beispiel die Armuts- und Reichtumsverteilung, die sozialen Brennpunkte, einen Mietspiegel – um nur mal drei Punkte zu nennen.
Und dann wäre es natürlich total gut, wenn er im Sozialbereich auch als Arbeitsgrundlage dienen würde. Als Richtschnur, wie präventiv gearbeitet werden soll.
Wir freuen uns jedenfalls erst mal über den allerersten Schritt.
Meine Damen und Herren,
die Kapazitäten des Frauenhauses betreffend gab es auch eine Recherche Ihrerseits. Das war 2021, weil wir schon zum letzten Haushalt Mittel für eine Erweiterung des Frauenhauses beantragt hatten. Sie wollten erfahren, ob eine Erweiterung der räumlichen Kapazitäten nötig sei. Und Sie haben herausgefunden: Es ist nötig. Wenn wir richtig informiert sind, dann wurde eine Wohnung dazu gemietet. Aber das Problem besteht weiter.
Die Aufnahmekapazitäten der Frauenhäuser sind gerade in der Coronazeit nochmal mehr an ihre Grenzen gelangt. Ausweichmöglichkeiten hessenweit sind also begrenzt. Und es geht auch nicht um vorübergehende Notlösungen sondern es ginge jetzt mal um eine deutliche Kapazitäts-erweiterung.
Und jetzt ein Bereich, der leider noch ziemlich Argen liegt: die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention hier im Wetteraukreis.
Am 13. Dezember 2006 wurde die UN- Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Am 30. März 2007 – also vor 14 Jahren – wurde sie von Deutschland ratifiziert. Es gibt einen bundesweiten Aktionsplan zur Umsetzung und seit 2012 auch einen hessischen Aktionsplan.
Wurde nicht vom Inklusionsbeirat des Wetteraukreises auch ein Aktionsplan erarbeitet? Stand der nicht sogar einmal auf der Tagesordnung des Kreistages, wurde dann aber kurzfristig abgesetzt? Wurde nicht dafür als Grund angegeben, man müsse noch daran arbeiten?
Das war zum Jahresende 2020. Seither herrscht Funkstille und das Thema ist noch nicht mal mehr auf der homepage des Wetteraukreises zu finden.
Was also ist los? Sind 14 Jahre zur Umsetzung zu wenig? Wann geht es weiter? Oder wurde der Plan aufgegeben weil er zu teuer ist?
Damit das Thema nicht in der Versenkung verschwindet, sondern weiter in Erinnerung bleibt haben wir einen Antrag gestellt. Die Stelle einer oder eines Inklusionsbeauftragten könnte hier wohl Bewegung bringen.
Unser nächster Antrag: Auch wir haben im Dezember 2021 überplanmäßigen Aufwendungen für die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe in Höhe von 4.900.000 Euro zugestimmt. Diese Ausgaben waren zweifellos nötig.
Problematisch ist allerdings, dass innerhalb des Haushaltsbudgets für Soziales Finanzmittel verschoben wurden, um das zu bezahlen. Und zwar aus dem Topf des Jobcenters in die Kinder-, Jugend- und Familienhilfe. Angeblich sank die Zahl der Bedarfsgemeinschaften beim Jobcenter und dadurch sei Geld aus der Grundsicherung für Arbeitssuchende übrig geblieben. Wir können nicht nachvollziehen, wann die Bedarfsgemeinschaften gesunken sein sollen.
(Aber wir können ja auch Ihre Einlassungen in diesem Haushalt nicht nachvollziehen, dass angeblich die Kosten der Unterkunft drastisch gesunken sein sollen.)
Ja, solche Verschiebungen von Mitteln innerhalb eines Haushaltsbudgets sind zulässig.
Doch wir möchten aber, dass bei Verschiebungen über 10.000 Euro immer der Kreistag informiert und ein Votum einholt wird. Kein Haushaltsposten im Sozialbudget ist so üppig ausgestattet, dass man ganz einfach Geld davon abziehen und in andere Konten verschieben könnte.
Meine Damen und Herren,
unser letzter Haushaltsantrag beschäftigt sich mit dem Klimaschutz.
Sie selbst haben im Ausschuss bei der Erstellung des Haushalts deutlich gemacht, dass eine Stelle – und eventuell noch eine in 2023 – eigentlich zu wenig ist, um im Bereich Klimaschutz deutlich voranzukommen.
Die Klimaziele des Wetteraukreises gehen zwar mit den Bundeszielen konform aber beide reichen nicht aus, um das 1,5oC-Ziel wirklich zu erreichen.
Zum anderen ist ein hoher Arbeitsaufwand nötig, für die Sichtung der vielfältigen Fördermöglichkeiten und dass diese auch beantragt und verfügbar gemacht werden.
Wir beantragen den sukzessiven Aufbau von zehn Stellen bis 2025. Dabei lohnt sich vor allem die Einwerbung von Fördergeldern für den Klimaschutz im Wetteraukreis.
Vielleicht denken Sie weniger über eine neue chice Kreisverwaltung nach und investieren hier!
Meine Damen und Herren!
Unsere Zielschnur ist es, die Menschen nicht zu vergessen, die keine satten Einkommen haben. Sie dürfen in unserer Gesellschaft nicht abgehängt sein.
Ex-Bundespräsident Gauck sagte am 9. März
bei Maischberger: „Wir können auch mal frieren für die Freiheit. Und wir können auch mal ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger an Lebensglück und Lebensfreude haben.“
Das soll ein Beitrag zur Solidarität mit der Ukraine sein. Das mit dem „Frieren“ und dem „Verzicht auf Lebensglück“ lässt sich natürlich wesentlich leichter sagen, wenn man sicher ist, dass das nur andere betrifft. In Realität frieren in Deutschland bereits jetzt viele Menschen, aber nicht für die Freiheit, sondern aufgrund von Armut.
Unerträglich finden wir, wenn dann noch Ignoranz und Arroganz dazukommt.
Meine Damen und Herren, ich danke für die Aufmerksamkeit.